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2021 WINTER

Die Süße gemischter Zeiten

Die weiten Ebenen rund um das an der Ostküste in der Provinz Jeollabuk-do gelegene Gunsan machten das einst arme Fischerdorf zu einem landesweit wichtigen Getreide-Umschlagplatz. In dieser Hafenstadt, die zu einem Zentrum sowohl des Aufblühens als auch der Plünderung wurde, sind viele Spuren der Vergangenheit erhalten. Das für die heutige Zeit ungewöhnliche Image von Gunsan, wo immer noch unzählige Geschichten unter der Oberfläche schwelen, hat der Geschwindigkeit, mit der sich moderne Städte verändern, sanft und stetig getrotzt.

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Im frühen 20. Jh. gelangten fremde Kulturen, allen voran die japanische, via Gunsan an der Ostküste ins Land. Der Kontakt hat unauslöschliche Spuren hinterlassen, einige davon ernüchternd. Aber das hebt Gunsans Einmaligkeit und macht es zu einem beliebten Touristenziel.

Wenn etwas gemischt wirkt, sagen die Koreaner oft, „Das ist ja wie eine Schüssel Jjamppong !“ – eine rote Nudelsuppe aus pfannengerührten Gemüsen, Meeresfrüchten und Fleisch, die die chinesische, japanische und koreanische Küche vereint. In Gunsan, das für sein Jjamppong berühmt ist, existieren Vergangenheit und Gegenwart wohlgemischt nebeneinander. Vielleicht war es daher natürlich, dass ich beim Aufbruch dorthin an Jjamppong denken musste.

Als ich in Iksan vom Hochgeschwindigkeitszug in den Lokalzug umstieg, roch ich etwas Ungewöhnliches. Es war, als rieche es in dem alten Zug, bei dem die Farbe außen abgeblättert war, nach einer Mischung verschiedener Zeiten. In dem ächzenden und rumpelnden Abteilwagen hatte ich das Gefühl, auf die Zeitmaschine aus meiner Vorstellung getroffen zu sein. Vielleicht wollte ich deswegen in Gunsan als erstes das Eisenbahndorf in Gyeongam-dong besuchen.

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Der 1909 von einem japanischen Mönch gegründete Tempel Dongguk-sa ist der einzige noch erhaltene Tempel japanischen Stils in Korea. Die Baumaterialien stammen aus Japan, und auch heute noch ist die Originalform der einzelnen Gebäude wie der Haupthalle, der eher eine Aura strenger Schlichtheit statt Dekorativität anhaftet, gut erhalten.

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Dieses Gebäude diente von 1908 bis 1993 als Hauptflügel des Alten Zollhauses, über die der Seeexport abgewickelt wurde. Heute beherbergt es eine Ausstellungshalle. Als eins der drei Hauptbeispiele für klassische westliche Architektur in Korea ist der Bau als Modernes Kulturerbe registriert.

EINE ZEITREISE
Das Eisenbahndorf liegt in der Nähe von Bahnschienen, auf denen keine Züge mehr fahren und die Zeit angehalten wurde. Einst fuhren Züge durch das Stadtzentrum, irgendwann rollten sie mit Holz und Papier beladen zwischen der Gunsan-Bahnstation und einer Papierfabrik. Als der Zugbetrieb vor langer Zeit eingestellt wurde, blieb die Zeit dort auch stehen. Schuluniformen der 1960/70er Jahre, Knabbereien und allerlei Schnickschnack aus der Vergangenheit sind immer noch zu finden. Da wegen der Covid-19-Pandemie heutzutage kaum noch Touristen kommen, war es ruhig, und ich war dermaßen bezaubert davon, so leicht in die Vergangenheit hineingezogen zu werden, dass ich eine ganze Weile einfach nur an den Bahngleisen entlang lief. Der Geruch der sich verflüchtigenden Zeit kitzelte an meiner Nasenspitze. Es roch nach dem Holz, das auf den rostigen Bahngleisen zurückgeblieben ist, oder nach Papier.

Nach dem Verlassen des Eisenbahndorfs wollte ich mir zunächst eine Schüssel Jjamppong gönnen, bevor ich die Stadt richtig erkundete. In Gunsan gibt es mehrere landesweit berühmte Jjamppong-Restaurants. Ich ging ins Binhaewon. Untergebracht in einem zum Kulturerbe erklärten Gebäude mit 70 Jahren Tradition, ist die dort servierte Jjamppong mild genug für diejenigen, die nicht scharf essen können. Mit dem ersten Löffel der lange geköchelten, herzhaften Brühe aus frischen Meeresfrüchten fühlte ich mich irgendwie getröstet. Es war der Geschmack der verdichteten Zeit. Das Antiquierte des Ortes verstärkte die Atmosphäre, das Essen war Balsam für die Seele. Wenn der Geruch der ersten Stunde der vielen Zeitschichten in Gunsan der des Papiers war, so war der zweite der von Jjamppong.

Gunsan ist seit langem eine Stadt, die das meiste Getreide im Land produziert und vor Vitalität sprüht. Frisch gestärkt beschloss ich, in die Modern History Culture Street zu gehen, ein Viertel mit Gebäuden aus der frühen Moderne, um die besagte Vitalität in ihrer alten Version zu erleben.

Bei der Besichtigung der Gunsan Modern Architecture Exhibition Hall, des Modern Art Museum und des Modern History Museum faszinierte mich, dass diese Vitalität der Vergangenheit noch zu spüren war und dass den Hinterlassenschaften der Geschichte und Zeit ein ihnen eigentümlicher künstlerischer Wert innewohnt. Wie kann etwas, das mit der Zeit abgenutzt und verblasst ist, noch so schön sein? Der Anblick, bei dem die Landschaft der Moderne mit der der Gegenwart geteilt wird, glich einem Modell von Raum und Zeit, in dem mehrere Dimensionen und Zeiten vermischt sind. An der im neuzeitlichen Stil gehaltenen Straße war auch unerwartete architektonische Schönheit zu spüren. Ich konnte das Streben nach Ästhetik statt nach reiner Funktionalität vage nachempfinden.

Das Gebäude mit der anmutigsten architektonischen Schönheit war das Alte Zollhaus. Durch Gunsan fließt der ins Gelbe Meer mündende Fluss Geum-gang, ganz in der Nähe befanden sich die Speicher, in denen die Getreide für den Schiffstransport gelagert wurden. Diese erstmals in der Goryeo-Zeit (918-1398) errichteten Lager dienten während der japanischen Kolonialzeit als regelrechte Sammelstellen für den Einzug der in Form von Getreide entrichteten Abgaben. Als ich vor dem Zollhaus stand, das damals ausschließlich als Lager für die Getreide-Schiffstransporte ins japanische Kaiserreich diente, regten sich in mir gemischte Gefühle. Entworfen von einem Deutschen, erbaut von Japanern mit roten Ziegeln aus Belgien, mit Fenstern im romanischen Stil, einem Eingang im britischen Stil und einem Dach im japanischen Stil ist es in der Tat ein Paradebeispiel für „Jjamppong-Architektur“.

WIDERSPRÜCHLICHE HARMONIE
Nicht weit von der Modern History Culture Street liegt der Tempel Dongguk-sa, ein während der Kolonialzeit errichteter buddhistischer Tempel im japanischen Stil. Schon auf den ersten Blick kommt der kleine Tempel mit seinem stark japanischem Ambiente fremd vor. Die schlichte, in japanischen Minimalismus gekleidete Haupthalle Daeung-jeonk, „frisiert“ mit dem 100-jährigen Bambuswald am Fuß des Berges Wolmyeong-san, ergab ein perfektes Styling.

Im Hof des Tempels steht Sonyeosang, wörtlich „Statue eines Mädchens“, besser bekannt als „Friedensstatue“. Es ist ein Mahnmal in Erinnerung an die koreanischen Mädchen und Frauen, die von der japanischen Armee zwangsverschleppt und in die Prostitution gezwungen wurden. Damals beuteten die japanischen Landbesitzer die Gunsaner Pachtbauern aus, um an mehr Reis zu kommen.Die unterdrückten Bauern revoltierten gegen ihr unerträgliches Leiden. Auf dem abgeschiedenen Hof dieser religiösen Einrichtung, die solch harte Zeiten überlebt hat, fühlte ich paradoxerweise ein seltsames Gefühl der Befreiung, als wäre sogar der vergebliche Hass der Vergangenheit verflogen und das Nirwana erreicht. Vielleicht erschienen mir deshalb all die im Tempel erhalten gebliebenen Dinge nicht widersprüchlich, sondern eher in harmonischem Einklang miteinander.

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In diesem als Gyeongam-dong Eisenbahndorf bekannten Viertel Gunsans lassen unzählige Esswaren und Spiele aus der Vergangenheit süße Erinnerungen aufkommen. Derzeit stehen die Leute für „Dalgona“ Schlange, den aus der Netflix Blockbuster-Serie Squid Game bekannten Honeycomb Toffee.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich im japanischen Herrenhaus Hirotsu Haus im Viertel Sinheung-dong. Es ist zwar nur eine Familienresidenz, die einst von wohlhabenden Japanern bewohnt wurde, aber gleichzeitig auch ein attraktiver Ort, der die Stürme der Zeit überstand. Der Bilderbuchgarten und die breiten Fenster des Hauptgebäudes spiegeln das menschliche Streben nach Schönheit gut wider. Die alten Mauern, engen Gassen und angerosteten Haupttore im benachbarten Stadtviertel Wolmyeong-dong versetzen einen in verschwommene Erinnerungen an die vergangenen Zeiten. Angesichts all der Spuren, die die Zeitläufte überdauert haben, dachte ich über die Bedeutung von lange erhaltenen Dingen nach. Die Stille des Unveränderten in einem Universum, das sich schneller als die Lichtgeschwindigkeit ausdehnt und verändert, ist gewiss beruhigend.

Trunken von der schillernden Pracht der Zeitreise machte ich mich auf den Weg zur Lee Sung Dang, Koreas ältester Bäckerei. Sie richtete sich einst an japanische Kunden, die als Erste auf den Geschmack von westlichem Brot gekommen waren, und wurde nach dem Untergang des japanischen Kaiserreichs von einem Koreaner übernommen. Als ich ein Teilchen mit Rote-Bohnen-Füllung und ein anderes mit Gemüse-Füllung, für die die Bäckerei berühmt ist, probierte, vermischten sich der Geschmack der Vergangenheit und der der Gegenwart wie Jjamppong auf meiner Zunge. In Gunsan entführt einen selbst ein gewöhnliches Gebäckstück auf eine Zeitreise. Und obwohl ich eigentlich kein Liebhaber von Süßem bin, ließ ich mir gleich mehrere schmecken.

LITERARISCHE AUFZEICHNUNGEN
„Was ist das für ein elendes Land? Was hat es jemals für mich getan? Warum versucht es, mein Land, das die Japaner zurückgelassen haben, zu verkaufen? Soll das ein Land für das Volk sein?“

„Warte doch, die Regierung wird schon dafür sorgen, dass dir kein Unrecht geschieht.“

„Vergiss es, ab heute bin ich ein Bürger ohne Land. Verdammt! Das Land muss doch seinen Bürgern etwas bieten, wofür sie dankbar sein können, sodass sie ihm vertrauen und sich ihm verbunden fühlen können! Was ist das für ein Land, das nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit den Bürgern Grund und Boden wegnimmt und verkauft?“

So eine sprachlich modernisierte Version der Erzählung Geschichte des Reisfeldes (1946) von Chae Man-sik (1902-1950). Aus Chaes zahlreichen Werken fiel mir aus heiterem Himmel gerade diese Passage vor dem Chae Man-sik Literaturhaus ein – wahrscheinlich wegen der besonderen Historizität von Gunsan, die mich seit meiner Ankunft verfolgte.

Mehr als 200 im Laufe von drei Jahrzehnten verfasste Werke wie Erzählbände, Romane, Theaterstücke, Rezensionen und Essays finden sich im Chae Man-sik Literaturhaus und geben einen tiefen Einblick in die Schaffenswelt des Schriftstellers. Der in Gunsan geborene Autor hatte eine besondere Begabung, die Zeit vor und nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft zu satirsieren. In Geschichte eines Reisfeldes, eins von Chaes Hauptwerken, wird der Vater des Protagonisten fälschlicherweise von den Behörden beschuldigt, am Donghak Bauernaufstand (1894) teilgenommen zu haben. Das Werk beginnt mit der Frage „Nimmst du deine Strafe an? Oder willst du deine Felder aufgeben?“. Die Hauptfigur verliert mehr als die Hälfte seiner Reisfelder, die seine Vorfahren im Schweiße ihres Angesichts erworben hatten, und ist nicht zu trösten. Erschöpft von seinem Leben als Pachtbauer, das er nach der Kolonialisierung zu führen gezwungen war, verkauft er sein letztes Stück Land an die Japaner in dem Glauben, es nach der Befreiung zurückzubekommen. Als es schließlich soweit ist, wird das Land jedoch von der koreanischen Regierung beschlagnahmt und verkauft, sodass es für immer verloren ist.

Für jemanden, dem sein Leben lang das, was ihm gehörte, immer nur weggenommen wurde, ist die Befreiung kein Grund zur Freude. Anhand dieser Figur, die nie ein Land hatte, dass er „mein Land“ nennen konnte, porträtiert Chae eindringlich das Chaos der Übergangszeit sowie Misstrauen und Ressentiments, die die Menschen der Zeit empfunden haben müssen. Diese herausragende Kunstfertigkeit ist wohl einer der Gründe, warum die von Chae Man-sik hinterlassenen Werke als Kulturerbe von Gunsan gelten.

Darüber hinaus war Chae einer der wenigen koreanischen Literaten, der wirklich „bereute“, die japanische Macht unterstützt zu haben. Nach der Befreiung veröffentlichte er die Novelle Sünder des Volkes (zwei Teile, erschienen 1948 und 1949), in der er zu seinen pro-japanischen Aktivitäten stand und sie deutlich bereute. Dieser Schlussstrich trug dazu bei, dass seine Werke nicht abgetan wurden, sondern zusammen als Modernes Kulturerbe Gunsans bis heute überlebten.

In allen Ecken und Enden Gunsans sind verschiedene Zeitschichten miteinander verwoben: ein untergegangenes Land, die Zeit unter japanischer Kolonialherrschaft, die Neuzeit nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit und die durch Industrialisierung geprägte Moderne. Die Art und Weise, wie sich die alten Zeiten miteinander vermischen und doch unversehrt bleiben, hinterlässt einen einzigartigen Eindruck.

Bevor ich zur Gunsan-Bahnstation zurückkehrte, schaute ich kurz bei Jungdong Hotteok vorbei, wo seit sieben Jahrzehnten die aus der chinesischen Qing-Dynastie (1616-1636) stammenden Weizenmehl-Pfannkuchen mit süßer Sirup-Füllung verkauft werden. Meistens werden Hotteok in Öl ausgebraten, aber hier werden sie im Steinofen gebacken, weshalb sie süß, aber nicht fetttriefend sind. Angenehm gesättigt und entspannt lenkte ich meine Schritte in Richtung Bahngleise, um in die Realität zurückzukehren. Dieser in der Geschichte hinterlassene saubere, süße Geschmack: Das war der Geschmack von Gunsan.

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Auf der 2,5 km langen Strecke der Gyeongam-dong Eisenbahndorf fahren keine Züge mehr. Stattdessen wandern in alte Schuluniformen gekleidete Touristen die von alten Häusern und Läden gesäumten Gleise entlang und erinnern sich an ihre Schulzeit.

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Bei ihrem Bummel durch die Stadt treffen die Touristen oft auf lyrisch anmutende Wandmalereien, die die sich windenden Gassen schmücken. Während berühmte Touristenattraktionen mit originellen Fotozonen locken, lassen viele der einfachen Wandbilder warme Gefühle aufkommen.

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Die Chae Man-sik Literaturhaus, das Leben und Werk eines der bedeutendsten koreanischen Schriftsteller des 20. Jh. gewidmet ist, umfasst neben einem Ausstellungsraum, einer Bibliothek und einem audiovisuellen Raum auch noch einen Fußweg zur Erkundung der Literatur und einen Park.

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Jjamppong, eine scharfe Nudelsuppe, die die chinesische, japanische und koreanische Küche vereint, ist das Spezialgericht von Binhaewon. Dieses chinesische Restaurant befindet sich in einem einzigartigen, für sein altmodisches Flair bekannten Gebäude, das als Modernes Kulturgut gelistet wurde. Es ist auch bekannt als Drehort von The Thieves (2012), einer der erfolgreichsten Streifen in der Geschichte des koreanischen Films.

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In Jungdong Hotteok werden die süßen Pfannkuchen gebacken und nicht fritiert. Gefüllt mit einer Sirup-Mischung aus Gunsans berühmter Klebgerste, schwarzen Bohnen, schwarzem Reis und schwarzen Sesamkörnern schmecken sie leicht und lecker.

Park SangSchriftsteller
Fotos Ahn Hong-beom

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